In den sozialen Medien ist es so eine Sache mit der Ruhe vor dem Sturm: Es gibt sie schlicht nicht. Irgendwo stürmt es immer. Meist ist es ein Shitstorm. Kreative Köpfe versuchen, auf Schiffen verschiedenster Größen durch diese Stürme zu navigieren. Oft richten sie sich an den falschen Wellen aus und übersehen den riesigen Tsunami an Steuerbord.
Ich entschuldige mich gleich für die nautischen Metaphern. Ich spiele im Moment viel Sea of Thieves, ein Piratenspiel, das sich zum Glück an den richtigen Wellen orientiert hatte. Das Game erschien 2018 und wurde damals von Community wie Kritiker*innen ordentlich kielgeholt. Spaßig in seinen besten Momenten bot die Hatz auf Schätze einfach zu wenig Content. Die Kreativ-Kapitäne des Studios Rare entschieden, den richtigen Wellen zu folgen, umschifften so Shitstorms und landeten, Stand heute, in den Shores of Plenty, Goldtruhe um Goldtruhe aus dem Game heraustragend. Nur das mit dem Trefferfeedback im PvP klappt noch nicht so recht, aber sei’s drum.
Andere Produktionen gingen leider im Sturm unter. Die Cowboy Beebop zerschellte an der Erwartungshaltung ihrer Fans. Zu wenig entspräche die Adaption ihrer Vorlage. Dieser Vorwurf ist der Tsunami unter den Vorwürfen, die Breitseite des Kriegsschiffs der HMS Fandom. Auf diese Breitseite folgt der Sturm, plötzlich kommen Wellen namens »Drehbuch«, »Plothole«, »Charakterentwicklung«, hervorgerufen durch ein unbekanntes physikalisches Phänomen. Anders gesagt: Sobald Fans ein Produkt nicht gefällt, werfen sie gern mit solchen Begriffen um sich. Die Abneigung soll versachlicht und somit seriöser werden. Und das machen wir alle.
Aber eigentlich geht es immer nur um eins: Erwartungshaltung. Und das gilt besonders für Werke, die medienübergreifend neu umgesetzt werden.
Cowboy Beebop war, laut vieler Fans, nicht nah genug am Original. Die »philosophische« Handlung käme nicht genügend rüber, der Plot sei zu zäh und – last but not least – Faye hatte zu viel an.
Nun muss man allerdings bedenken, dass die meisten, die Cowboy Beebop damals im Original sahen, wahrscheinlich so um die 14 waren. Solche Animes brachten uns damals Konzepte aus dem Philosophie-GK nahe, und das in der Regel auf ziemlich prätentiöse Weise. Und wenn dein Text, lieber Rezensent, schon damit anfängt, dass du wahrscheinlich nostalgisch verklärt wärst, bist du dann überhaupt die richtige Person für eine Rezension?
Noch etwas abenteuerlicher wird es bei der Serie The Witcher. Während der zweiten Staffel entbrannte ein Streit zwischen einer kleinen Minderheit, die eine 1:1-Umsetzung der Buchvorlage wünschte, und, ähm, naja, dem großen Rest halt. Erstgenannte Minderheit feuert gerne mit Kombi-Kanonen, indem sie sich erst als Buchkenner vorstellen, um dann Inhalte aus den Games zu nutzen. Beliebte Falschbehauptung: Die Gleichstellung von Yennefer und Triss habe es bereits in den Büchern gegeben. Sorry, werter Experte, aber das ist falsch. Triss Merigold ist eine ziemlich nebensächliche Figur in den Büchern. Geht es euch also wirklich um eine genaue Adaption, oder habt ihr nur eure Erwartungshaltung nicht im Griff?
All das wäre ja grundsätzlich kein Problem, wenn es noch, wie in der guten, alten, vordigitalen Zeit, die klare Trennung zwischen den Berufskritiker*innen und den Fans geben würde. Aber heute inszenieren sich Fans teils über große Kanäle auf Twitch oder YouTube, als seien sie Feuilletonisten. Die Grenze verschwimmt, im Nebel der digitalen See kann man schon mal Größe mit Kompetenz verwechseln. Was übrigens nicht bedeutet, dass YouTube nur inkompetente Kanäle hätte, es bedeutet aber, dass es zu viele inkompetente Kanäle hat, die durch hohe Reichweite das Meinungsspektrum beeinflussen.
Sobald jemand ein Werk anhand seiner Erwartungshaltung beurteilt, beurteilt er nicht mehr das Werk, sondern den Umstand, dass es seinen Erwartungen nicht gerecht wird. Er tritt keinen Schritt zurück, bemüht sich nicht um eine sachliche Beurteilung, schätzt nicht Stärken und Schwächen ein. Er sucht nur nach Gründen, die seine These stützen, und plötzlich fallen ihm Schwächen auf, die ihm bei Werken, die ihm gefielen, nie aufgefallen wären. Die Erzählung besteht dann nur noch aus Schwächen.
Was kein Problem ist, wenn man nicht gerade einen YouTube-Kanal mit ein paar Hunderttausend Abonnenten sein Eigen nennt. Die rufen ihre Follower nämlich gern direkt wie indirekt zum Entern auf.
Kreativen ist daher nur anzuraten, manche Stürme einfach durch Ignoranz zu umschiffen und nur die konstruktiven Wellen für die Navigation zu nutzen, wie es Rare bei Sea of Thieves tat. Das Risiko wird bleiben, dass Kanäle mit zu viel Macht die Produzenten beeinflussen, aber das ist nun mal ein Merkmal unserer Zeit. Die Seefahrt war schon immer ein risikoreiches Unterfangen.
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