Was wäre, wenn man sich seine Träume erfüllen könnte und im Gegenzug nur etwas Lebenszeit abgeben müsste?
Umverteilung von unten nach oben
In der nahen Zukunft hat der Biotech-Konzern Aeon eine Methode entwickelt, Lebenszeit von einem Menschen auf einen anderen zu übertragen. Das Ganze funktioniert auf genetischem Wege. Wie genau, wird im Film allerdings nicht erklärt. Es könnte mit den Telomeren an den Enden der Chromosomen zu tun haben, die sich bei jeder Zellteilung verkürzen und so den Alterungsprozess in Gang setzen. Darauf deutet zumindest hin, dass die Spender nach der Abgabe ihrer Lebenszeit sichtbar altern, während die Empfänger verjüngt werden.
Etwas mehr Technobabbel wäre zwar durchaus drin gewesen, andererseits liegt der Fokus des Films auf den sozialen Auswirkungen. Für die geopferte Lebenszeit können sich die Menschen nämlich einen Traum finanzieren, sei es nun ein Eigenheim, ein Studium oder was auch immer. Mit etwas Glück kann man sich die verlorenen Lebensjahre später wieder zurückholen, wenn man richtig investiert hat. Und was machen schon 15 Jahre weniger, wenn man erst 20 ist? Ob man später mit 70 oder 85 stirbt, interessiert einen jungen Menschen noch nicht.
Allerdings dürfte klar sein, dass die Wenigsten ihre gespendeten Jahre zurück erhalten, denn diese können ja wiederum nur von anderen armen Menschen kommen. Man muss schon reich sein, um sich Lebensjahre kaufen zu können, und wer sich das leisten kann, wird sie wohl kaum zurückgeben. Mit anderen Worten wird die Lebenserwartung von unten nach oben verteilt. Am deutlichsten wird dies bei der Ausbeutung von Einwanderern. Ein junger Flüchtling kann zwar seine gesamte Familie nach Deutschland holen, wenn er Lebenszeit spendet, doch Migranten bekommen oft nicht die besten Jobs und um über die Runden zu kommen, werden dann schnell mal weitere Jahre fällig.
Kapitalismuskritik oder doch nicht?
Die Kritik am kapitalistischen System tritt ziemlich deutlich zutage, denn tatsächlich opfern die Arbeiter ihre Lebenszeit in der Fabrik, im Büro oder wo auch immer, um so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem offenbaren die Statistiken, dass die Lebenserwartung umso geringer ausfällt, je härter der Beruf ist. Logisch, denn anstrengende Berufe gehen mit einem hohen physischen und psychischen Verschleiß einher. Reiche Menschen kennen derartiges hingegen nicht und können sich obendrein eine bessere medizinische Versorgung leisten. Während viele Arbeiter noch vor Eintritt des stetig steigenden Renteneintrittsalters versterben, werden die meisten Superreichen über 90 oder gar 100 Jahre alt, sofern keine unnatürlichen Todesursachen dazwischen kommen.
Paradise treibt dieses Konzept der gestohlenen Lebenszeit ähnlich auf die Spitze, wie zuvor schon In Time – Deine Zeit läuft ab von 2011. Letzterer geht sogar noch einen Schritt weiter, indem Zeit zur neuen Währung wird und Zeitmillionäre quasi fast unsterblich sind, während die Armen für jeden Kaffee Lebenszeit verlieren. Allerdings altert in dieser Dystopie niemand mehr und wem die Zeit ausgeht, der stirbt einfach. In diesem Punkt ist Paradise etwas realistischer, wobei beide Konzepte auf ihre jeweilige Art interessant sind.
Ein weiterer Punkt, den beide Filme gemeinsam haben, ist der wachsende Widerstand gegen das System. Bei In Time verbünden sich ein armer Emporkömmling (Justin Timberlake) und die Tochter eines Millionärs (Amanda Seyfried), um die ausbeuterische Klassengesellschaft zu stürzen, während in Paradise die radikale Adam-Gruppe, die zunächst erst mal nichts mit den Protagonisten des Films zu tun hat, Anschläge auf Aeon-Einrichtungen verübt.
Die Erzählweise ist bei In Time etwas glücklicher gewählt, da man direkt mit den Widerständlern mitfiebert, welche die Zeit durch Banküberfälle zurück von oben nach unten verteilen. Man ist nah an den Figuren dran, deren Sache stets gerecht wirkt. Für die Adam-Gruppe entwickelt man dagegen weniger Sympathien, da sie zum einen nur aus Nebenfiguren besteht und zum anderen die reichen Zeitempfänger brutal erschießt, wobei die gestohlene Lebenszeit verloren geht. Damit ist die Grenze zum Terrorismus überschritten, was viel erzählerisches Potential verspielt.
Hinzu kommt der religiöse Subtext. Die Gruppe hat sich nach dem laut christlicher Lehre ersten Menschen Adam benannt und ihre Anführerin heißt Lilith (Lisa Loven Kongsli). Laut dem apokryphen Alphabet des Ben Sira soll Adam vor Eva bereits eine andere Frau diesen Namens gehabt haben. Da sich diese ihm jedoch nicht unterordnen wollte, musste sie aus dem Paradies fliehen. Der Film heißt natürlich auch nicht zufällig so. Jedenfalls werden Lilith wenig schmeichelhafte Attribute zugesprochen. Adam soll Dämonen mit ihr gezeugt haben und in weitaus älteren sumerischen Überlieferungen wird Lilith gar selbst als Dämon beschrieben. Ihr Verhalten im Film ist dementsprechend skrupellos, was die Kapitalismuskritik ein Stück weit untergräbt, da die Alternative nicht gerade menschenfreundlicher erscheint.
Auf der anderen Seite hat die deutlich erhöhte Lebenserwartung der Superreichen durchaus auch positive Effekte. Aktuell beuten die Kapitalisten den Planeten aus, als gäbe es kein Morgen mehr. Frei nach dem Motto: „Nach mir die Sintflut!“ In der dargestellten Zukunft führt die gesteigerte Lebenserwartung jedoch dazu, dass sich die Superreichen zunehmend Sorgen machen, noch zu ihren Lebzeiten von der Sintflut eingeholt zu werden. Daher haben sie von fossilen Brennstoffen Abstand genommen und in den Ausbau regenerativer Energien investiert. Umwelt und Klima beginnen, sich zu erholen. Was nicht alles plötzlich möglich ist, wenn man die Rechnung für die eigenen Lebenssünden selber zahlen muss, statt sie der kommenden Generation aufbürden zu können …
Eine finstere Verschwörung
Das eigentliche Kernthema des Films bildet eine Verschwörung, welcher die Hauptfiguren nach und nach auf die Schliche kommen. Zu Beginn ist Max Toma (Kostja Ullmann) noch ein gefeierter Spitzenvertreter des Aeon-Konzerns, der eloquent jeden armen Klienten dazu bringt, Lebenszeit zu spenden. Er selbst hat einst 5 Jahre seines Lebens gespendet, um sein Studium zu finanzieren, und ist von dem Geschäftsmodell völlig überzeugt.
Nachdem er gerade für seine herausragenden Leistungen ausgezeichnet wurde, brennt eines Nachts sein luxuriöses Apartment nieder. Die Versicherung weigert sich, für den entstandenen Schaden aufzukommen, und da die Wohnung noch nicht abbezahlt war, stehen die Tomas nun vor einem gigantischen Schuldenberg. Doch es kommt noch schlimmer.
Was Max nicht wusste: Seine Frau Elena (Marlene Tanczik / Corinna Kirchhoff) hat als Kreditbedingung der Pfändung von 40 Jahren ihrer Lebenszeit zugestimmt. Teilen kann er diesen Betrag nicht, da es bei der Lebenszeitspende einen Haken gibt. Die DNA von Spender und Empfänger muss kompatibel sein und seine DNA ist nicht gefragt, die seiner Frau dafür umso mehr. Als Elena die Lebenskräfte ausgesaugt werden, verliert sie dabei ihr ungeborenes Kind, was die Einstellung ihres Mannes radikal ändert.
Max’ Chefin Sophie Theissen (Iris Berben / Alina Levshin) bietet ihm keine Hilfe an. Im Gegenteil, es stellt sich heraus, dass sie Elenas Lebensjahre erhalten hat und sie schon lange hinter ihr her war, da sie die einzig kompatible Spenderin war. Und mehr noch: Der Wohnungsbrand war kein Zufall.
Max sieht sich dazu veranlasst, die Jugend seiner Frau mit Gewalt zurückzuholen. Auf dem Friedhof entführt er die vermeintlich Verjüngte, die sich jedoch als Tochter der Konzernchefin herausstellt. Dennoch hält er an seinem Plan fest und flieht mit seiner Frau und der gekidnappten Maria (Lisa-Marie Koroll) außer Landes. Es beginnt eine Verfolgungsjagd, an deren Ende die Söldner des Konzerns auf die Adam-Gruppe treffen. Nach den Ereignissen erhält Elena zwar ihre Jugend zurück, doch sie und Max gehen entgegengesetzte Wege.
Fazit: Gut investierte Lebenszeit
Deutsche Filme haben, mit wenigen Ausnahmen, einen eher schlechten Ruf. Meist handelt es sich um flache Komödien mit viel Fremdschäm-Momenten. Spannende Science-Fiction erwartet man aus Deutschland eigentlich überhaupt nicht. Umso überraschender ist Paradise, der als dystopischer Thriller mit einer Prise Gesellschaftskritik durchaus überzeugen kann.
Das Konzept ähnelt zwar dem von In Time, den Paradise trotz realistischerem Erklärungsmodell nicht wirklich das Wasser reichen kann, doch bietet der Film genügend eigene Ideen, um mehr als nur ein bloßer Abklatsch zu sein. Die Story ist durchaus spannend erzählt und das dystopische Setting kann sich sehen lassen. Dafür, dass Sci-Fi in Deutschland bisher extrem stiefmütterlich behandelt wurde, ist Paradise gar nicht mal so schlecht. Auch wenn er sein Potential nicht zur Gänze ausreizt, ist es direkt schon schade, dass er sich nicht auf der großen Leinwand bewähren durfte, sondern lediglich bei Netflix gestreamt werden kann.
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