Die Cairanerin fürchtet um ihren Sohn – und muss die Terraner jagen
Titel: Unter dem Weißen Schirm
Autor: Verena Themsen
Titelbild: Dirk Schulz
Erschienen: 07.08.2020
Zur Handlung
Auf Ecaitan im Sternenrad: Bei der Übergabe Aipus von Dupa Emuladsu festgesetzt wird Chione McCathey über Tage hinweg von jener verhört. Doch geschickt eingefädelt entwickelt sich ein offenes Gespräch zwischen den Frauen, bei dem es Dupa um Aipu geht. Aufgrund seiner Eigenheiten fürchtet sie nämlich, dass er wie zuvor schon ihr Vater mit seinem Gehirn in die Enzephalotronik eingehen wird. Als ein Kollege hinzugezogen werden soll, tritt Dancer in Fazialmaske auf, befreit Chione und nimmt Dupa als Geisel auf Zeit mit.
Derweil haben unter der Führung Schlafners dieser als Cairaner, Obioma als Báalol und TARA-Psi als niemand Bestimmtes die Infiltrierungen fortgeführt: In den Instituten für Biodiversität sowie Informationskreatech können sie erfahren, dass Báalols wie Signaten von der FONAGUR in einem Haupttest als Kandidaten für eine Art Piloten geprüft werden. Doch die vorbereitete Absicht, die Enzephalotronik und das sog. Bendoleath als steuernde Kernstücke des Hyperschub-Antriebs zu zerstören, stoppen sie auf Chiones Bitte im Namen Dupas letztsekündlich. So bleiben sie auf Ecaitan unter dem Weißen Schirm zurück, wo das Sternenrad jederzeit seinen Flug in die Bleisphäre antreten könnte…
Die Drei Ultimaten Beobachtungen
1. Charakterlicher Quantensprung
Inmitten der Lichtfülle noch zu sehr geblendet gewesen, um Charakter an den Figuren erkennen zu können, hat es sich nun um nahezu 180° gewendet und ich behaupte das Gegenteil! Aus mir suspekter, obskur ihre Wyrrdsteine auslegender und kaum wissenschaftlich anmutender Chione wird über Woche eine taffe Diskussionspartnerin, die sich überzeugend für die Werte und Ziele von Wissenschaft einsetzt. Sie entlockt kosmopsychologisch geschickter Informationen aus Dupa als umgekehrt und zeigt sich obendrein noch empathisch der Mutter gegenüber ihres Sohnes wegen.
„Blässlich“ mein Attribut Obiomas fürs vorige Heft – gutmöglich, dass das sogar der gewollte Eindruck sein sollte. Denn jetzt erleben wir in den meisten Kapiteln die Handlung aus seiner Sicht und mit welchen Selbstzweifeln er die ganze Zeit zu kämpfen hat. Ob er einsatzgeeignet ist, was er alles NICHT hat beitragen können, wie viel ihm misslang … Eventuell nicht die optimalen Einsatzvoraussetzungen. Wenn man das nächste Mal so etwas Galaxiswichtiges wie das Sternenrad erkunden will, sollte man sich da mehr Zeit fürs team building lassen. Wobei das „building“ schon hervorragend geklappt hat, so warmherzig sich Lionel und Chione zugetan und sich am Ende in die Arme gefallen sind.
2. Neuroversum reloaded?
„Mit Band 3078 wechselt die Handlung in die andere Hälfte des Dyoversums.“ So heißt es nach ENDE zum Titel des nächsten Romans PLUTO. Ich las statt Dyo- hier Neuroversum im Freudschen Verleser. Der hatte sich bei mir nach vorigen Enthüllungen eingeschlichen, die mich schon beim Namen Enzephalotronik befallen hatten. Besagte Hinweise hinter dem Bedeutungshorizont. Im gleichnamigen Zyklus geht es um die Erschaffung eines geistgelenkten, selbstbewussten Neuroversums. Niemand andere als diese Autorin hatte mit Die Planetenbrücke (2605) die terranische Erstbegegnung mit für das Projekt fundamentalen Mentroniken bzw. mentronischen Totenhirnen geschildert. In Wahrheit also nicht nur Technikerin und Physikerin, sondern auch noch Neurologin vom Dienst.
Nicht nur die verdächtige Namensähnlichkeit von Men- und Enzephalotronik sind augenfällig, sondern auch die Stoßrichtungen der Projekte: Mit dem Neuroversum sollte ein Weg jenseits der Hohen Mächte und ihrer Ränkespiele, entkoppelt vom Moralischen Kode ermöglicht werden. Soweit wir das herauslesen konnten, wollen die Cairaner auch weg von allen Hohen Mächten gleich welcher Vorzeichen und sich ins superintelligenzlose Dyoversum retten. Das wäre zurzeit ja bloß durch die Zerozone punktuell mit unserem Standard- und somit dem Multiversum verbunden. Das mal nur so in kombinatorischer Spekulation angerissen – falls es wem an kosm(olog)ischen Perspektiven und langfristigen Visionen mangeln sollte…
3. Weitere rote Fäden
Desweiteren die – nur sehr grob skizzierte – Art, wie man mit bisher völlig unbekannten „toten“ Benshéri dennoch Kontakt im sog. Bendoleath aufnehmen kann, wie also Kommunikation mit eigentlich doch schon längst Toten ermöglicht wird. Das erinnerte mich doch sehr an “Totentücher“ aus dem Universum der Schreibenden Engels bzw. des Totums. Da darf man dann schon gewisse Verbindungen ziehen. Dyo- und Totumversum großteils bzw. ganz ohne lebende Intelligenz; Verständigung mit nicht mehr lebenden Intelligenzen; dazwischen der TARA-Psi als beseelter Roboter. Ich schlage als Hauptthema das Verhältnis von Geist und Körper, von belebt und unbelebt, von Leben zu Tod vor. Auf gewisse Weise geht es also um eine Philosophie des Geistes, die hier perryversal ausbuchstabiert wird.
Im Übrigen sehr schön am Beispiel des objektiv denkenden Physikers Obioma, wie erstaunt und angeregt er durch Sallu Browns Offenbarung ist, kein bloßer oder auch nur Posbi-Roboter, sondern ein menschlicher Geist in der Maschine zu sein. Eine sehr schön geschriebene Mischung aus (wissenschaftlich neugieriger) Faszination, Unglaube und versuchtes Einfühlen in solch einmalige Umstände.
Ich argwöhne übrigens, dass die „Entdeckung“ der Hypertronik der BLAISE PASCAL von den Cairanern irgendwie in die Wege geleitet worden ist. Von ihnen der Flug der Naatschen FONAGUR nur ein gezielter Test (MIT OPFERN!), ob und wie gut sie mit besagter Hypertronik und Spezialantrieb vorstoßen konnte. Lieber Tausende Naats riskieren als 76 Mrd. Cairaner im Sternenrad gefährden … Denn zu parallel aufgebaut der mit HATH’HATHANG und dem Weißen Loch Emlophe zusammenhängende Spezialantrieb des Sternenrads und die Enzephalotronik als noch krassere Hypertronik… So sehr Bio- über standardmäßige Positroniken hinausgehen, so sehr dürfte die Enzephalo- die Hypertronik in den Schatten stellen – mutmaße ich mal unterstellend.
Rasender Reporter Roman wähnt bereits einen perryversalen Degrader auf uns zukommen. Verena Themsen entzieht sich durch Exposéunwissen einer Antwort… Ich finde es nicht mehr, bin mir aber sehr sicher: Vor Expoamtsantritt hat es geheißen, man wolle die kosmologischen Ausmaße zurückfahren, z.T. weg von den Hohen Mächten. Alles seit Band 2700 in der Verantwortung der Expokratur scheint mir aber vielmehr das Gegenteil befördert zu haben: Z.T. aus milliardenjähriger Zukunft oder aus den Jenzeitigen Landen durch eine zeitlose Synchronie Zugriffnahme durch die Atopen und Thez; dieser als Wesenheit noch über die Hohen Mächte (Kosmokraten und Chaotarchen) hinaus; nun hinter der Scherung entschwunden; mit dem Dyoversum ein mit dem Urknall entstandener zweiter Zweig unseres Universums… Kandidatin Phaatom auf dem Weg zur Materiesenke; usw. nicht die klassische Mixtur für ein kosmologisches Weniger. Expansion vor Implosion?
Ich hoffe ja immer noch inständig, Wim Vandemaan erinnert sich seiner eigenen Schreibe und rementalisiert die Versiegelten Regionen, aus denen die Sayporaner stammen. Dort gab es nämlich keine bzw. nur noch „tote“ Superintelligenzen. Ein Ort also, an dem sich die Vecuia hätte wunderbar als kosmische Sperrmüllabfuhr austoben können. Ein Ansatz für einen Degrader…
Fazit zu Unter dem Weißen Schirm
Kurz und bündig – ein mir sehr gut gefallener Roman. Sehr geschickt platziert die privaten Verhörprotokolle Dupa Emuladsus, aus denen wir aus Chiones Gefangenschaft und dank ihrer psychorhetorischen Finesse viel über Cairaner und Sinn und Zweck des Sternenrads erfahren. Bisweilen fast schon zu selbstunsicherer Obioma, dessen mitunter etwas wissenschaftsarmer Blick aufs Geschehen gut rüberkommt. Und auch jüngst an Dancers Seite verblasster Schlafner bekommt – wegen weitgehend offscreen handelnder Dancer – Raum zum Anführen der maskierten Einsatztruppe.
Schon erstaunlich wie sehr meine urteilende Meinung da gekippt ist von voriger zu dieser Woche. Und das, obwohl Handlungsort und handelnde Akteure identisch geblieben sind. Für mich entscheidend der Schreibstil, der für mich hier Lebendigkeit in die Figuren einschreiben konnte. Vermutlich ist auch der Umstand wichtig, es mit einem Doppelband zu tun zu haben. Gemäß pyramidenförmiger Erzählform für eine dramatische Handlung enthielt Arndt Ellmers Roman meiner Einschätzung nach „nur“ Exposition, wo Schauplatz und Handelnde eingeführt wurden – check. Erst in diesem Roman dann Phasen zwei und drei, wo es (für mich) zu nennenswerten gemeinsamen Handlungen gekommen ist und das Ganze einem Höhepunkt mit Auflösung zugestrebt ist. So gesehen ist ein so expovorgegebener erster Doppelband-Roman recht undankbar, so wenig er alleine für sich stehen kann.
Und weil es nun so lesenswert aufgelöst wurde, wechseln wir natürlich sofort Schauplatz und Akteure und kehren zum dritten Mal ins Dyoversum zurück, wo ein nächster Viererblock ansteht – ich bin vorfreudig interessiert!
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