In »Mulliboks Mond« muss Kira Nerys eine schwierige Entscheidung treffen.
Fortschritt um des Fortschritts Willen
Auf Deep Space Nine kommt der bajoranische Minister Toran zu Besuch. Er will den Erfolg eines wagemutigen Projekts beurteilen. Es soll Energie transferiert werden, damit auf Bajor im Winter Hunderttausende Haushalte beheizt werden. Dafür soll der Mond Jeraddo genutzt werden. Doch als Major Kira und Lieutenant Dax diesen Trabanten nach Lebensformen absuchen, stoßen sie auf eine bajoranische Siedlung, deren Insassen sie bedrohen, als sie sich auf die Oberfläche beamen.
Es stellt sich heraus, dass die Bewohner zu einem alten Mann gehören, der sich hartnäckig weigert, den Mond zu verlassen. Er gibt sich störrisch und knurrig, doch Kira lässt sich nicht abwimmeln. Beide lernen sich besser kennen, als sie gemeinsam ein Essen zubereiten. Er stellt sich schließlich als Mullibok vor, der seit über 40 Jahren auf dem Trabanten lebt. Der alte Mann ist nicht bereit, diesen zu verlassen, nur weil seine Heimat Teil eines Projekts ist, um die Lebensbedingungen anderer Bajoraner zu verbessern, und dabei zerstört wird.
Er und Kira tauschen gegenseitig Lebenserinnerungen aus. So erzählt er ihr, wie er auf dem Mond gelandet ist und sie erzählt von ihren Erlebnissen aus dem Kampf gegen die cardassianische Besatzung. Der Major versucht gleichzeitig weiterhin, ihm ins Gewissen zu reden, allerdings ohne Erfolg.
Eine schwere Entscheidung
Die Lage eskaliert, als bajoranische Streitkräfte versuchen, die noch übrig gebliebenen Bewohner mit Gewalt zu entfernen. Dabei wird Mullibok von einem Phaser getroffen. Bashir untersucht ihn und nach einem Befehl von Kira bleibt der alte Mann auf dem Mond zurück. Sie selbst passt auf ihn auf. Was eine Situation ist, die Benjamin Sisko nicht gefällt.
Major Kira wacht die Nacht über Mullibok. Der träumt schlecht und sie muss in einem Stuhl neben seinem Bett sitzen. Als sie am nächsten Tag aufwacht, ist er allerdings wieder auf den Beinen und legt letzte Hand an einen Brennofen an, an dem er die ganze Zeit arbeitete. Kira hilft ihm bei der Fertigstellung, ehe sie den Ofen zerstört und sein Haus niederbrennt. Danach beamt sie sich mit ihm fort.
Ein Subplot der Folge war, wie Jake Sisko (Cirroc Lofton) und Nog (Aron Eisenberg) einen Tauschhandel durchzogen. Ausgehend von 5000 Packungen Yamok-Sauße, gelangen sie schließlich in den Besitz eines Stück Lands auf Bajor. Was Nog am Ende bei seinem Onkel gegen fünf Barren Latinum eintauscht.
Ein moralisches Dilemma
»Star Trek« ist dann mit am besten, wenn die Serie sich schwierigen Problemen stellt und sie behandelt. So auch in »Mulliboks Mond«. Es dreht sich alles um die Frage, was schwerer wiegt: das Wohl der Gemeinschaft oder das des Einzelnen.
»Deep Space Nine« verweigert sich einer eindeutigen Antwort. Einerseits werden die Bemühungen der bajoranischen Regierung in keinem guten Licht dargestellt. Die forcierte Entfernung der widerspenstigen Bewohner ist dabei ein einschneidender Moment. Andererseits werden die Einwohner selbst bei der ersten Begegnung ebenso nicht sehr sympathisch charakterisiert. Sie drohen mit primitiven Waffen und geben sich unnahbar. Vor allem Mullibok wird zunächst als grantelnder alter Mann dargestellt, der scheinbar dem Fortschritt im Weg steht.
Erst im Laufe der Folge wird dieser Eindruck aufgeweicht. Man lernt mehr über den alten Bajoraner kennen und was ihn dazu bringt, so zu agieren, wie er es getan hat. Die Figur erhält hierbei eine unglaubliche Tiefe, die von dem Schauspieler Brian Keith fantastisch rübergebracht wird.
Es geht um einen Baum
Der Zwiespalt des Zuschauers wird dabei durch Major Kira repräsentiert. Genau wie sie, weiß man nicht, für welche Seite man sich entscheiden soll. Es gefällt, wie sehr Nana Visitor in der Rolle aufgeht, wie man merkt, dass ihre Figur Sympathien für den alten Mann entwickelt. Und wie am Ende dann trotzdem das Pflichtbewusstsein siegt. Die finale Szene, in der sie das Hab und Gut des alten Mannes zerstört, um ihn mitnehmen zu können, zerreißt einem schier das Herz.
Zunächst könnte man meinen, dass diese Entwicklung aus dem Nichts kommt. Doch wenn man darüber nachdenkt, dann erscheint die Entscheidung von Major Kira in »Mulliboks Mond« durchaus folgerichtig. Sie erzählt dem Mullibok von dem alten Baum in ihrer Kindheit, bei dem sie überlegte, ihn zu fällen. Mullibok steht für den Baum und anstatt ihn zu fällen, pflanzt sie ihn quasi um. Wobei offen bleibt, ob das die richtige Aktion war. Denn die Folge endet in dem Moment, wo der Transport durchgeführt wird. Es bleibt dadurch offen, ob metaphorisch gesprochen der alte Baum in neuer Erde Wurzeln schlagen wird, oder ob er, wie er befürchtet, eingehen und sterben wird.
Im Prinzip hätte »Mulliboks Mond« eine grandiose Episode werden können. Wäre da nicht dieser seltsame Subplot rund um die Bemühungen von Nog, fünf Latinumbarren zu erhalten. Dazu lassen sich die beiden auf diverse Tauschhandel ein, an deren Ende der junge Ferengi das Gewünschte erhält.
Ein unnötiger Witz
Das Problem ist, dass dieser Plot eher humoristisch gespielt wird. Die ganze Aktion wirkt aberwitzig und wird auch entsprechend präsentiert. Nur wird dadurch die Ernsthaftigkeit des Hauptplots konterkariert, was der Folge nicht gut tut.
Auf Englisch heißt die Episode »Progress«, also Fortschritt. Der Titel passt besser als der Deutsche, da er passender zusammenfasst, was das zugrunde liegende Dilemma der Handlung ist.
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Gegrüßt.
Sehr trefflich auf den Punkt gebrachte Zusammenfassung, worum es geht und wie uneindeutig zwiespältig die finale Entscheidung ausfällt.
Die verbalen Kollegen beim Discovery Panel haben jüngst auch genau diese Folge besprochen
https://www.discoverypanel.de/2019/09/18/lieblingsfolgen-ds9-progress/
Für mich ist es so eindeutig uneindeutig aber nicht: dass die zurückgebliebenen Mondsiedler anfangs unsympathisch rüberkommen, weil sie einem (mutmaßlich) nie demokratisch abgestimmten Entscheid nicht wohlwollend nachgiebig, sondern widerspenstisch mit gezückten (primitiven) Waffen zu vermeiden suchen, zeugt nicht von deren Garstigkeit und ggf. vorhandenen Böswilligkeit, sondern Hilflosigkeit. Wie und womit anders sollen sie denn noch zeigen, wofür sie einstehen, NACHDEM über ihre Köpfe hinweg ungefragt entschieden worden ist, dass und auf welche Weise ihr Grund und Boden und – begriffsschwanger – ihre Heimat genommen wird? Da sind sie am ganz hinteren Ende der Machtwippe, weshalb deren anfänglicher Ingrimm nur verzweifelter Ausdruck von Machtlosigkeit gegen Übermächtige ist.
Für mich bleibt’s auch unklar, ob das so „ALTERNATIVLOS“ ist, wie behauptet wird, weil es dafür an Informationen mangelt, was stattdessen ersonnen, erdacht, ausprobiert wurde, warum planetar genutzte Solarenergie o.Ä. nicht ausreichen soll auf einer vglw. nicht gerade überindustrialisierten, noch stark religiös gebundenen Welt (deren Energiebedarf gewiss im Zuge des Wiederaufbaus steigt, keine Frage).
Hinzu Fragen, ob die Zerstörung eines Mondes (und v.a. dessen nebenfolgende Trümmer) nicht jegliche energetische Vorteile durch das Impact-Risiko zunichtemacht? (Hard-SF Werk AMALTHEA an der Stelle passend, wozu chaotische Mondtrümmer führen können). Für mich reicht da die Behauptung von Amt wegen nicht aus, dass dem schon ganzs icher genau so sein wird und zu sein hat, um Muliboks Bedenken (die er freilich nicht im Stile heutiger Bürgerinitiativen argumentativ rationalisiert) auszuräumen und mit Pflichterfüllung auszuwiegen. Und ja, dennoch ziemlich realistische Darstellung, wenngleich die anweisende Seite ja nur in Stellvertretung durch Kira gezeigt wird, also im Prinzip anonym und bloßer Befehl bleibt, während wir Mulibok persönlich (in Skizze) kennenlernen und als Lebewesen erleben. Narrativ da also das Gegenteil intradiegetischer Machtwippe, nämlich klare Vorteile für vordergründig-fokussierten Mulibok wider grau-eminente Machthaber im Hintergrund.
@B-Plot: Ja, anderswo wäre der sogar gut gewesen, gerade weil amüsant, wie die beiden Lütten da Kontur und Charakter durch ihre wildwüsten Aktionen erlangen. Aber das Gewichtige des Hauptplots wird dadurch mindestens gestört/unterbrochen, wenn nicht konterkariert
So oder so tolle Folge, die Kira ausformt, wo wir noch vor Staffel2 sehr viel über Bajors Verhältnisse, Nöte und „Notwendigkeiten“ erfahren.
BTW: Hier pocht Sisko auf Pflichterfüllung Unausweichlichen, der er zu Kriegszeiten dann – noch so sehr mit sich ringend – selber nicht (mehr uneingeschränkt) nachkommt … #Profi? 😛