Immer wieder wird im Fandom darüber geredet – das ist Kanon und das nicht. Aber warum ist das überhaupt so wichtig? Dem gehe ich hier mal auf den Grund.
Zuerst sollten wir mal klären – was genau bedeutet denn überhaupt Kanon? Kanon kommt aus dem griechischen und bedeutet so viel wie Richtschnur oder Maßstab. Für viele verschiedene Felder und Bereiche gibt es eigene Definitionen, uns interessiert aber natürlich die Definition für die Fiktion. Wikipedia sagt dazu: „Bei fiktionalen Werken stellt der Kanon jenes Material dar, welches als offiziell gültig für das fiktive Universum anerkannt wird.“ (Siehe Artikel Kanon (Fiktion))
Wer legt fest, was anerkannter Kanon ist?
Diese Frage ist sehr einfach zu beantworten. Der Rechteinhaber und manchmal auch der Schöpfer des fiktiven Universums. So kann es eben auch vorkommen, dass Dinge, die mal Kanon waren, es nicht mehr sind oder Dinge auf einmal Kanon werden, die es früher nicht waren. Das klingt komplizierter, als es ist. Faustformel: Das, was das Universum gegründet hat, ist Kanon. Bei den Zusätzen muss man genauer hinschauen.
Beispiel: Herr der Ringe ist ein literarisches Universum. Die Bücher in diesem Universum sind erstmal Kanon, die Filme dazu nicht. Es sei denn, der Rechteinhaber (der Schöpfer ist ja schon tot) entscheidet, dass die Filme ebenso Kanon sind oder „Der kleine Hobbit“ als Buch es nicht mehr ist. Ob so etwas Sinn macht, steht hier erst mal nicht zur Debatte, es geht nur um die Mechanik.
Was genau ist denn dann Kanon?
Das ist von Franchise zu Franchise unterschiedlich. Bei Star Trek sind es alle Serien und Filme, lediglich bei der Trickserie wird der Kanonschalter mal so, mal so benutzt. Hier schlagen sich die Fans teilweise (virtuell) die Köpfe ein, wenn es um bestimmte Details geht. In der Zeichentrickserie wird zum Beispiel Robert April als erster Kommandant der Enterprise genannt – dieser wurde erst bei der Discovery Folge „Wähle deinen Schmerz“ wieder erwähnt, was aber nun die Diskussion, ob April Kanon ist oder nicht beendet.
Star Wars ist dann wieder ein wenig anders, denn lange Zeit waren die Bücher, die nach Episode 6 spielten auch Kanon – bis Disney 2014 übernahm und diese Bücher in die „Legends“-Reihe verschob und sie als nicht-kanonisch bezeichnete. Die neuen Bücher, die nun rauskommen, sind es aber. (Nachtrag: Ich musste mich belehren lassen, Star Wars ist was Kanon angeht, noch komplexer. Ich verweise deshalb an dieser Stelle lieber nur an die Jedipedia – die haben es perfekt zusammengefasst.)
Babylon 5 ist auch nochmal ein Sonderfall – hier erklärte JMS die Bücher zur Serie als kanonisch. Allerdings gilt dies nur für die Bücher, die während der Laufzeit der Serie erschienen/entstanden sind, da er auf diese ein Auge haben konnte. Später erschienene Werke sind es nicht. In anderen Universen wurde erst mit einem Reboot ein Kanon festgelegt oder es gibt bis heute keinen.
Marvel ging da einen sehr eigentümlichen Weg – sie entwickelten für ihr MCU einen eigenen Kanon, der die Comics als Grundlage hat, aber etliche Aspekte aus ihnen weglässt, um es für den Zuschauer nicht zu kompliziert zu machen.
Kanon vs. Kontinuität
Das ist einer der häufigsten Fehler, die in solchen Diskussionen immer wieder vorkommen. Fans verwechseln gerne Kanon mit Kontinuität. Ich versuche dies einmal sehr anschaulich zu erklären.
Kanon ist: Die Enterprise hat einen Warp-Antrieb. Kontinuität ist: Die Enterprise braucht bei Maximal-Warp mal 10 und mal 20 Stunden, um 20 Lichtjahre zu reisen.
Dieser Grabstein aus der Folge „Spitze des Eisberges“ wird immer wieder gepostet, wenn es darum geht, dass TOS in sich selbst nicht Kanon ist. Dass der Kanon also hier und da mal gebrochen wird, muss folglich nicht immer wieder erwähnt werden.
Dies ist aber ein Kontinuitätsproblem. In der eigentlich ersten Folge hatte man noch keinen Namen festgelegt, bzw. man erinnerte sich später nicht mehr daran, dass man hier bereits ein R als Mittelinitial vergeben hatte. Die danach standardmäßige Verwendung des T, was in der Trickserie dann zu Tiberius und später auch bestätigt wurde, machte das T zum Kanon und nicht das R.
Kurz gesagt: Es ist die Summe der Geschichten und Ereignisse, nicht der Details, die den Kanon bestimmen.
Und: Zu Zeiten von TOS hat sich noch niemand einen Kopf darum gemacht – das kam erst, als man über eine Fortsetzung nachdachte.
Was passiert, wenn wir keinen Kanon haben?
Anarchie. Chaos. Totales Durcheinander. Ihr glaub mir nicht? Ich erkläre es euch. Ein paar von euch wissen vielleicht, dass ich neben Science-Fiction auch ein großer Fan von He-Man (oder He-Fan) bin. Hier wurde die Geschichte rund um den stärksten Mann des Universums so häufig geändert, dass man am Ende verschiedene Konzepte gleichzeitig hatte.
Die ersten Figuren kamen mit einem quasi vierteiligen Comic auf den Markt. He-Man wurde als Vertreter eines Barbarenvolkes beschrieben, der loszog, um Castle Grayskull zu beschützen. Als die Trickserie von Filmation erschien, war der Planet auf einmal ein Paradies und nicht mehr diese karge Landschaft aus den Comics und die Geschichte hatte sich grundlegend geändert. He-Man war nun das Alter Ego des Prinzen von Eternia, Adam, Sohn von König Randor. Sein treues Reittier Battle Cat war ebenfalls ein Alter Ego, und zwar das von Cringer, dem Haustier von Prinz Adam.
Wir hatten also eine komplett andere Hintergrundgeschichte in den ersten Comics bei den Figuren und in der Trickserie. Damit nicht genug, auch die dazu erschienen normalen Comics, also nicht die, die bei den Figuren beilagen, waren mal die eine Geschichte, mal die andere. Zu allem Überfluss kamen in Deutschland auch Hörspiele raus, die ebenso beide Konzepte nutzten – und auch die Hintergrundgeschichten einzelner Charaktere sogar innerhalb der eigenen Reihe mehrfach änderten.
Als 1987 der Realfilm kam, änderte dieser auch wieder etliche Dinge – aber das sind wir ja von Verfilmungen gewohnt. Dies änderte sich erst, als 2002 die Neuauflage mit einem neuen Cartoon begann. Man schnürte aus den ganzen losen Fäden ein Konzept, welches man auch konsequent weiterverfolgte. Die dazu erschienenen Comics (z.B. die Icons of Evil Reihe) lieferten zu manchen Charakteren Hintergrund und Entstehungsgeschichten. Das Chaos war vorbei. (Mehr von mir zu den Masters of the Universe in den nächsten Ausgaben des Corona Magazine)
Warum brauchen wir also den Kanon?
Eigentlich ist es sehr einfach. Zu Star Trek gibt es 13 Filme, grob 700 Episoden und über 600 Romane. Dazu etliche Comics, Videospiele und Sachbücher. Wäre dies alles Kanon, müsste alles Beachtung finden. Alleine für die Herkunft der Borg gibt es einige unterschiedliche Versionen. Welche ist die Richtige? Welche ist Kanon? Keine. Da sie alle in Büchern, Comics und Videospielen sind.
Die neue Picard-Serie wagt nun endlich den Weg in die Zukunft. Wir wissen bereits, dass Brent Spiner dabei sein wird und Jeri Ryan als Seven of Nine. Es gibt literarische Fortsetzungen zu TNG, DSN und VOY, die nun alle berücksichtigt werden müssten. In einem Comic ist Data im Körper von B-4 der Captain der Enterprise. Seven ist am Ende einer längeren Romanreihe wieder Annika Hansen, als ihre Implantate sich auflösen. Beides kann so nicht passiert sein, denn die Implantate sind noch da und B-4 liegt in einer Schublade.
Der Kanon ist wichtig, denn sonst würden neue Geschichten unmöglich zu erstellen sein. Schon heute muss man für eine Folge sämtliches Kanonmaterial kennen (wenn man als Schreiber/Produzent Wert darauf legt, authentisch zu sein) – und genau daran ist Discovery gescheitert, sodass man nun einen Sprung in die weit entfernte Zukunft gemacht hat. Das lockert den Kanon, aber es befreit nicht davon.
Und genau aus diesem Grund hat Disney auch dem Expanded Universe den Laufpass gegeben. Es stand der Entwicklung neuer Filme im Weg.
Es sagt über die Qualität einer Geschichte nicht aus, ob sie zum Kanon zählt oder nicht. Lasst euch nicht den Spaß an den Geschichten nehmen, nur weil jemand meint, das Buch sei nicht Kanon. Aber der Kanon ist wirklich wichtig, wenn es um die Entwicklung neuer Ideen geht. Sonst hätten wir irgendwann ein totales Durcheinander in unserem Franchise.
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