Im 25. Jahrhundert herrscht auf der Erde eine frauenverachtende Dystopie.
Q trifft den Awakened
Der erste Erzählstrang dreht sich um eine junge Frau. Die Gesellschaft betrachtet sie als Gebärmaschine, weswegen sie geflohen ist. Ihr wurde die Quality-Seriennummer QL172004-5-4 verpasst, wobei die ersten beiden Ziffern für ihr Alter von 17 Jahren stehen. Demnach müsste sich der Individualcode jedes Jahr aktualisieren. Alle Namen sind jedenfalls verboten und die Menschen sind in Kategorien eingeteilt. Die meisten sind steril und lediglich Arbeitssklaven mit einer Quantity-Codierung. Eine Handvoll Privilegierte, die im Zentrum leben, halten das repressive Regime am Laufen. QL172004-5-4 gehört zu den wenigen verbliebenen gebärfähigen Frauen, die im Tempel der Schöpfung untergebracht sind, in dem sie permanent künstlich befruchtet werden.
Bereits an diesem Punkt zeigt sich, wie abartig diese dystopische Gesellschaft ist, denn ihre erste Schwangerschaft erfolgte mit 12 Jahren. Kinderrechte gibt es offenkundig nicht, wobei die Mädchen zum Glück nicht vergewaltigt, sondern künstlich befruchtet werden. Krank ist es dennoch. Und sobald die Frauen nicht mehr gebären können, werden sie einfach abgeschaltet wie eine defekte Maschine. Nur die fast schon als Heilige verehrte Muladhara, die noch mit 62 gebärfähig ist, stellt etwas Besonderes dar.
Nachdem QL172004-5-4 diesem System entflohen ist und ihren Sohn bei der Geburt verloren hat, liegt sie selbst im Sterben. Doch da wird sie von einem Wesen namens Awakened aufgesucht, der sie ins Leben zurückholt und heilt. Außerdem schaltet er die Nanobots ab, mit denen sie jederzeit ferngesteuert und abgeschaltet werden kann. Er offenbart ihr den Wert des Lebens und macht sie mit seinen Holzbienen vertraut. Daraufhin nimmt sie den Namen Q an, wobei sie natürlich keine echte Q im Sinne von Star Trek ist.
Ein Entsorger macht sich unbeliebt
Ein zweiter Handlungsstrang dreht sich um einen Entsorger, der auf einer der untersten Stufen der Gesellschaft steht. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt mit der illegalen Modifikation von Dysfunctional Women, einer Art Sexbots, mit denen die Triebe der überwiegend sterilen Männer befriedigt werden. Er selbst steht auf ein defektes Miranda-Modell, das in den unpassendsten Momenten zu singen beginnt und das nicht einmal besonders gut. Nebenher bricht er in verlassene Atombunker ein und stiehlt dort verbotene Artefakte, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verscherbeln.
Bei einer Tour entdeckt er mehrere Flaschen mit Rotkäppchen-Sekt, die gleich doppelt verboten sind, weil auch Alkohol tabu ist. Übrigens merkt man anhand der Marke, dass die Autorin aus Ostdeutschland stammt. Wobei sich die Frage stellt, ob sie für diese Schleichwerbung bezahlt worden ist? Denn im Gegensatz zum Trabbi gibt es die Marke Rotkäppchen noch. Aber egal, jedenfalls lässt sich der Entsorger davon inspirieren, seine Miranda als Rotkäppchen zu verkleiden und mit ihr ins Zentrum zu ziehen, wo er umgehend verhaftet wird, denn auch die Farbe Rot ist dem gemeinen Volk verboten. Zur Strafe wird er in einen Cube gesteckt, der allerdings nicht ganz so drastisch ist, wie jener aus der gleichnamigen Filmreihe. Für Q dürfte es damit schwierig werden, den Entsorger zu finden, wie es ihr der Awakened aufgetragen hat.
Die Chosen One trifft eine Entscheidung
Gelenkt wird die Gesellschaft von den drei unsterblichen Chosen Ones, zwei Männer und eine Frau, die in einer dreiseitigen Pyramide leben. Dort nehmen sie täglich rote Bäder, die ihre Zellen frisch halten. Den Rest des Tages vertreiben sie sich mit Dingen, die für die normale Bevölkerung bei Strafe verboten sind. Der dritte Erzählstrang konzentriert sich dabei auf die weibliche C1, die sich als Haustier ein geklontes Albino-Kaninchen hält, was niemandem sonst erlaubt ist. Dieses heißt in Anlehnung an das weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland Alice. Das ist nicht nur ziemlich flach, sondern in Anbetracht von Lewis Carrolls fragwürdigem Umgang mit Kindern, der sich in der künstlichen Befruchtung von Zwölfjährigen Quality-Mädchen wiederspiegelt, nicht wirklich gut durchdacht.
Wie die anderen Chosen Ones ist C1 arrogant und dekadent, wobei einer der Männer als krankhafter Sadist beschrieben wird, der sich an seinen Untergebenen vergeht. C1 ist dagegen zwar deutlich naiver, aber nicht minder pervers. Sie belästigt eine sterile Dienerin sexuell, indem sie ihr einen Nipple-Twist verpasst. Derartiges hat sie auf einem antiken Gemälde gesehen und dachte sich, das probiert sie mal aus. Als die Sterile daraufhin die Pyramide verlässt und den Arbeitern auf den Obstfeldern die Wahrheit über die Chosen Ones berichten will, wird sie kurzerhand abgeschaltet, sprich via Nanobots exekutiert.
Der Tod droht ebenso C1, denn an ihrem 150. Geburtstag soll sie Suizid begehen und durch einen identischen Klon ersetzt werden. Darauf hat sie jedoch keinen Bock und bringt ihren Klon um. Den Unterschied merkt ohnehin niemand und zudem manipuliert sie die Gefühle der Bediensteten mit einer Stimmungsorgel. Doch bevor sie ihre große Rede an die Nation halten kann, erscheint eine Unbekannte in ihren Gemächern. Damit endet die Handlung. Aber nur fast, denn im Epilog darf Q noch einmal über die Giftpilze sinnieren, mit denen sie sich zu Beginn das Leben nehmen wollte.
Jede Menge Widersprüche
Die Dystopie an sich enthält einige interessante Aspekte, die jedoch nicht zu Ende gedacht sind. So werden allen Menschen zur Kontrolle Nanobots injiziert, die sogar ihre Gedanken überwachen können. Damit sollte es eigentlich unmöglich sein, dass irgendwer auch nur daran denkt, aus der Reihe zu tanzen. Dennoch existiert ein Schwarzmarkt für verbotene Dinge. Ferner können Menschen automatisch abgeschaltet werden, sobald sie das System gefährden, so wie es der Sterilen widerfährt, als sie auf der Obstplantage dazu ansetzt, die Wahrheit über die Chosen Ones zu verkünden.
Ohnehin ist das Leben in dieser Dystopie nicht allzu viel wert, denn auch Arbeiter und Gebärmaschinen werden abgeschaltet, sobald sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen können. Auf der anderen Seite ist den Menschen aber der Freitod verboten und die Nanobots unterbinden jeden Suizidversuch. Sobald jemand etwas Unerlaubtes unternimmt, kann die Person über die Nanobots ferngesteuert werden, was die Frage aufwirft, wie Q überhaupt in den Wald entkommen konnte? Warum wurde sie weder gestoppt noch verfolgt? Zwar wird angedeutet, dass man sie jederzeit finden könnte, doch nichts dergleichen geschieht.
Die größten Widersprüche ergeben sich jedoch rund um die Chosen Ones. Zunächst einmal sind diese drei die uneingeschränkten Herrscher über die dystopische Welt, doch sie scheinen diese nicht aktiv zu regieren. Auf keiner einzigen Seite wird beschrieben, wie und welche politischen Entscheidungen sie treffen. Stattdessen leben sie hedonistisch in den Tag hinein und gehen ihren perversen Leidenschaften nach. Das ist zwar durchaus typisch für Despoten, jedoch nur in deren Freizeit. Die Chosen Ones scheinen dagegen ausschließlich Freizeit zu haben und keinerlei Staatsgeschäften nachzugehen.
Noch unlogischer ist, dass von ihnen erwartet wird, sich an ihrem 150. Geburtstag zu suizidieren. Nur wer könnte sie dazu zwingen, wenn sie an der Spitze der sprichwörtlichen Machtpyramide stehen? Und warum sollten sie überhaupt nach 150 Jahren durch einen identischen Klon ersetzt werden, wenn sie doch nahezu unsterblich sind? Immerhin werden ihre Zellen durch die roten Bäder regeneriert. Ein Klon würde nur dann Sinn machen, wenn die Chosen Ones doch sterblich sind. Allerdings könnten sie dann warten, bis der natürliche Sterbeprozess einsetzt. Und wenn es um den persönlichen Machterhalt geht, müsste dann noch das Gehirn oder zumindest die Seele auf den Klon übertragen werden, da dieser sonst nur eine physische Kopie wäre.
Und wo wir schon einmal bei den Klonen sind, stellt sich auch gleich noch die Frage, warum die Menschheit überhaupt vom Aussterben bedroht ist, wenn die Gentechnik schon so weit fortgeschritten ist? Warum werden die wenigen fruchtbaren Frauen als Gebärmaschinen missbraucht, wenn jederzeit ausreichend Arbeitssklaven geklont werden könnten? Warum wird die Klontechnologie nur für die Chosen Ones und deren Haustiere genutzt? Klar, die natürliche Reproduktion sorgt für mehr genetische Vielfalt, aber ließe sich das Problem der Unfruchtbarkeit nicht ebenfalls mittels Gentechnik lösen? Das gesamte Konzept ist unausgegoren und dann gibt es noch ein Problem.
Esoteric Fiction statt Science Fiction
Das Buch strotzt nur noch vor esoterischen Einschlägen. Das beginnt schon mit dem Titel der „Muladhara“, was ein Synonym für das Wurzelchakra ist. Dieses wird allerdings nicht näher erläutert und auch der Begriff der „Feinstofflichkeit“ wird nur kurz auf einer Seite in den Raum geworfen, ohne dass es für die Geschichte relevant wäre. Es fehlt hier eine tiefergehende Mythologie, wie z. B. die Macht in Star Wars, Immerhin der Awakened scheint zu Beginn ein blau leuchtendes Astralwesen aus reiner Energie zu sein, nimmt dann aber doch eine physische Gestalt an.
Wann, wie und warum sich ein Teil der Menschheit zu Energiewesen weiterentwickelt hat, wird nicht erklärt. Es wird lediglich angedeutet, dass sich die Awakened nicht in die Belange der restlichen Menschheit einmischen, ähnlich wie die Antiker in Stargate SG1. Der eine Awakened, der sich schließlich abgekürzt A nennt, scheint dafür ebenfalls verstoßen zu werden. Seine Motive bleiben dabei ähnlich unklar wie fast alles in diesem Roman. Klar ist nur, dass hier offenkundig das Konzept der „aufgestiegenen Meister“ als Inspiration diente, was wieder einmal höchst esoterisch ist. Dass die Chosen Ones ausgerechnet in der Pyramide hausen, ist dann wohl ebenso kein Zufall.
Um dem Fass die Krone aufzuschlagen, werden auf Seite 44 „Chemtrails“ erwähnt. Mit denen wird eine künstliche Wolkendecke erschaffen, die vor der Strahlung einer zweiten Sonne schützen soll. Seit wann und warum die Erde plötzlich eine zweite Sonne hat, wird wieder einmal nicht erklärt. Vielleicht seit 2010, dem Jahr in dem wir Kontakt aufnahmen? Ach nein, falsches Universum! Für die Handlung spielt die zweite Sonne jedenfalls ebenso keine Rolle wie die Chemtrails. Dabei ließe sich über dieses Thema durchaus ein intelligenter Thriller im Stile von Dan Brown schreiben, denn warum sollte ein dystopisches Schreckensregime nicht wirklich Chemikalien über den Himmel versprühen? Die Science Fiction bietet sich hier geradezu für ein Was-wäre-wenn-Szenario an.
Leider ist die dargestellte Welt in sich nicht schlüssig. Nichts wird begründet und ebenso wenig spielt es eine Rolle. Es erweckt den Anschein, als ob Begriffe wie „Feinstofflichkeit“ und „Chemtrails“ einzig dazu eingeflochten worden sind, um das Buch auf Esoterikmessen und Verschwörungskonferenzen zu verkaufen. Für diese Zielgruppen mag das funktionieren, zumal wenn niemand die Sinnhaftigkeit hinterfragt. Rational denkende Leser, die Wert auf das „Science“ vor der „Fiction“ legen, dürften hingegen wenig damit anfangen können. Dabei versteht es die Autorin durchaus, in sinnvollen Zusammenhängen zu schreiben, z. B. wenn sie die chinesische Jagd auf Spatzen unter Mao sowie deren fatale Auswirkungen beschreibt. Mit der Erläuterung des Bienentanzes als Sprache wird es sogar für ein paar Seiten naturwissenschaftlich korrekt.
Schwierige Sprache
Als wären die Schlagwörter aus den Bereichen Esoterik und Verschwörungsmythen nicht schon genug, werden zusätzlich Wörter durch ein undefiniertes Denglisch verschandelt. Dabei geht es gar nicht mal um englische Begriffe wie „Awakened“, sondern um deutsche Wörter, die schlichtweg falsch geschrieben sind. Zum Beispiel wird „Klon“ durchweg mit „C“ geschrieben, aber ohne „e“ am Ende. Es handelt sich damit nicht um das englische „Clone“. Ähnlich sieht es bei „Controlle“, „Ceremonie“ und „Centrum“ aus. Die Schreibweisen wären vielleicht noch zu rechtfertigen, wenn sie als weiterentwickelte Sprache in der wörtlichen Rede Verwendung fänden, denn die Sprache im 25. Jahrhundert mag eine andere sein als heute. Im regulären Text fühlt es sich hingegen falsch an, denn so werden diese Wörter einfach nicht geschrieben!
Das Lektorat hätte hier eingreifen müssen, hat allerdings auch an anderen Stellen geschlafen. Und obendrein ist der Schreibstil insgesamt sehr anstrengend. Die Sätze sind streckenweise sehr abgehackt, sodass es schwer fällt, sich in die Handlung einzulesen. Die Charaktere reden zudem kaum miteinander, es gibt nur ein absolutes Minimum an Dialogen. Die Welt wird mehr durch Exkurse wie aus einem Sachbuch erklärt und weniger durch die Charaktere erlebt. Und wenn sich dann mal etwas wie eine Handlung abspielt, wird es nicht selten schmuddelig. Sei es der Entsorger, der eine Dysfunctional Woman beim Tätowieren auf den Hintern klatscht, Beschreibungen von Outfits, bei denen die Genitalien zu sehen sind, oder der unnötige Nipple-Twist an einer Sterilen.
Fazit zu Dysfunctional Woman: Dysfunctional!
Die Grundidee bietet Potential für eine interessante Dystopie. Leider ist die Umsetzung in weiten Teilen unausgereift und mit esoterischen Konzepten angereichert, die nicht wirklich etwas zur Handlung beitragen und obendrein nicht wirklich erklärt werden. Wer sich nicht mit Esoterik auskennt, wird damit also wenig anfangen können. Aber auch bezüglich der dargebotenen Dystopie bleiben viele Fragen unbeantwortet und nicht selten ergeben sich dadurch himmelschreiende Widersprüche. Der größte Kritikpunkt ist jedoch, dass die titelgebenden Dysfunctional Women kaum eine Rolle spielen. Sie sind lediglich Sextoys ohne eigenen Verstand. Im Zentrum der Handlung stehen stattdessen eine Quality, eine Chosen One und ein Entsorger, weshalb der Titel komplett irreführend ist.
Kritikpunkte aus feministischer Sicht kommen dabei nur am Rande vor. Am ehesten wird noch die Degradierung von Frauen zu Gebärmaschinen kritisiert. Allerdings werden diese künstlich befruchtet, womit das Thema sehr trocken und nüchtern angegangen wird. Zielscheibe der toxischen Männlichkeit sind dagegen die besagten Dysfunctional Women, die aber nur seelenlose Roboter sind. Von daher ist deren Perspektive irrelevant und wird nicht weiter herausgearbeitet. Und die einzige Chosen One ist am Ende nicht besser als ihre beiden männlichen Kollegen und damit auch kein besonders feministischer Charakter. Ob sich daran durch die angebahnte Begegnung mit der aufgewachten Q etwas ändern wird?
Es gibt bereits eine Fortsetzung mit dem Titel Dysfunctional und eine weitere namens Woman ist angekündigt. Da die Autorin gleichzeitig die Verlegerin ist, war es offenkundig kein Problem, gleich eine Trilogie zu planen, ohne die Kritiken oder Verkaufszahlen abzuwarten. Aber vielleicht geht die Rechnung, gezielt Esoteriker und Verschwörungsideologen anzusprechen, ja auf und das Buch wird zu einem großen Verkaufsschlager. Immerhin kann man diesen Zielgruppen ebenso leicht Orgonitpyramiden und Engelsstaub andrehen. Ob das gleichzeitige Bedienen von naturwissenschaftlichen sowie gesellschaftskritischen Themen dann auch zum erhofften Erfolg bei den restlichen Sci-Fi-Fans führt, erscheint dagegen zweifelhaft.
Autorin: Julia Kulewatz
Titel: Dysfunctional Woman
Verlag: Kul-Ja! Publishing
Erschienen: 29. 03. 2023
Einband: Taschenbuch
Seiten: 250
ISBN: 9783949260100
Sonstige Information: Produktseite
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